System und Kasuistik in der Strafrechtswissenschaft - Interdisziplinäre Gedanken zu Hubert Treibers Einladung Max Weber zu lesen

Autor/innen

  • Monika Frommel

Abstract

Aus juristischer Perspektive sind Max Webers Idealtypen des vom Systemgedanken geprägten kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens und der eher kasuistisch vorgehenden angelsächsischen Praxis hilfreich. Sie können in eine interne Sprache, wie sie die üblichen Methodenlehren verwenden, übersetzt werden. Auch können die jeweiligen Vor- und Nachteile der beiden Vorgehensweisen kombiniert werden, um am Ende eine systematische und kasuistisch ausgearbeitete Rechtspraxis zu gewährleisten. Doch nur wenige Rechtswissenschaftler rezipierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Max Weber. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildeten die zeitgenössischen Vertreter des sog. Freirechts, insbesondere H. Kantorowicz. Er folgte einer trialistischen Methodologie, wonach die jeweilige juristische Dogmatik den Sinn der Gesetze festlegt, während Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie extern beobachten. Die Rechtsphilosophie sollte werturteilsfrei die verschiedenen Haltungen darstellen, um unterschiedliche normative Bewertungen systematisch einzuordnen. Besonders umstritten war und blieb bis heute die spezifischen Bedingungen einer Entscheidung. Nach der Perspektive der Freirechtler hat jede praktische Entscheidung letztlich einen dezisionistischen Anteil. Wegen dieser Erkenntnis wurde nicht nur jede relativistische Rechtstheorie heftig kritisiert, sondern es wurden auch ihre Vertreter disziplinär ausgegrenzt. Diese hartnäckige Ablehnung des letztlich dezisionistischen Charakters, auch der Rechtspraxis in der kontinentalen Rechtskultur, erschwerte eine offene Beschäftigung mit Max Webers rechtssoziologischen Schriften und erklärt auch, wieso die Max Weber-Forschung eine Domäne der Soziologie geblieben ist.

Veröffentlicht

30.11.2023